Wir haben dieses Jahr schon einige spannende und vor allem inspirierende Geschichten zu hören bekommen. Beispielsweise von Marie, die mutig mit einer Vision im Gepäck in die Schweiz ging. Von Maren, die ihrer Liebe zur Natur in der Fotografie Ausdruck verleiht, und zuletzt von Lisanne, die einzig und allein mit Straßenmalkreide in Hannover die Aufmerksamkeit auf ein wichtiges Thema lenkt. Aber nicht nur Menschen, sondern auch Orte können Geschichten erzählen. Vor allem verschaffen sie uns – sofern wir ganz aufmerksam sind – Zugang zu Geschichten, die schon so weit in der Vergangenheit liegen, dass wir nahezu eine kleine Zeitreise unternehmen. Manch ein Ort hält sich mit seiner Geschichte keineswegs zurück und serviert sie uns in Form großer Denkmäler. Andere wiederum versuchen es mit etwas leiseren Tönen und erinnern hier und da mittels Plaketten an dagewesenes oder Geschehenes. Und andere Orte wiederum machen uns einzig und allein auf ihre Geschichten aufmerksam, indem sie irgendwie wie aus der Zeit gefallen wirken.
Die Pariser Passagen – die Passages Couverts de Paris – gehören zu den eher unbekannteren, aber nicht weniger spannenden Sehenswürdigkeiten der französischen Hauptstadt. Kein Wunder, ist Paris doch ohnehin mit so viel Sehenswürdigen aufgeladen, dass die Eingänge der überdachten Einkaufsgassen schnell übersehen werden. Einmal jedoch gefunden, lässt es sich herrlich von einer Passage in die nächste stolpern. Fast fühlt man sich wie Alice im Wunderland, nur dass man statt auf einen verrückten Hutmacher und Herzköniginnen mit einem Wutproblem eher auf Buchhandlungen, Antiquariate und Spielzeuggeschäfte trifft. Wundersame Momente sind hier allerdings trotzdem nicht ausgeschlossen. Beginnen wir also unseren Ausflug ins Paris des 19. Jahrhunderts.
Mit der Schildkröte durch Paris
Die Pariser Passagen werden gerne als Vorläufer der großen Warenhäuser und Einkaufsstraßen bezeichnet. Im 19. Jahrhundert konnten rund 150 Passagen in Paris gezählt werden. Heute sind davon nur noch etwa 20 Stück erhalten, die meisten davon im 2. Arrondissement, dem Kleinsten aller Arrondissements. Die Übrigen mussten vor allem den Visionen von Georges-Eugène Haussmann weichen, der von 1853 bis 1870 Präfekt des Départements Seine war und das Stadtbild von Paris wie kaum ein anderer nachhaltig geprägt hat. Unter seiner Leitung sollte Paris sich zu einer modernen Metropole entwickeln. Die breiten Boulevards sollten nicht nur der Stadt eine übersichtliche Struktur verleihen, sondern gleichermaßen Barrikaden von Aufständigen verhindern. Sozusagen ein modernes Paris ohne Platz für Revolte. Aber bleiben wir bei den Passagen bevor sie größtenteils Haussmann zum Opfer fielen.
Ein Faible für geheimnisvolle Verbindungen hatten die Pariser*innen offenbar schon immer. Noch bevor in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Stadt von den überdachten Passagen durchzogen wurden, gab es bereits einige Passagen, die zwar etwas luftiger, aber keinesfalls weniger spannend um die Ecke kamen. Die wohl älteste unbedachte Passage ist die Passage de l’Ancre im 3. Arrondissement und entstand bereits im 17. Jahrhundert. Die gerade einmal 70 Meter lange Passage ist ein echter Hingucker und beherbergte einst mit Pep’s das älteste Geschäft für die Reparatur von Regenschirmen. Das in den 1960er Jahren eröffnete Fachgeschäfte für Parapluies schloss leider im Januar diesen Jahres für immer seine Türen. Ein Abstecher in die Passage de l’Acre lohnt sich aber dennoch, überzeugt sie doch vor allem im Frühjahr und Sommer mit ihrem botanischen Touch. Die überdachten Passagen als architektonisches Highlight ließen aber noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts auf sich warten. Für sie brauchte man nämlich erst einmal Eisen als künstliches Baumaterial und die Idee für Gaslaternen.
Hintergedanke für den Passagenbau war, dass vor allem die reichen Pariser*innen sich im Schutze der Passagen vor Regen, Gestank und Dreck sich der Konsumwelt ungehindert hingeben konnten. Walter Benjamin, einer der bedeutendsten deutschen Kulturkritiker*innen, schrieb in seinem Essay Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, dass die Passagen „ein Zentrum des Handels in Luxuswaren“ waren. Luxuriöse Boutiquen, ´Teesalons und auch Buchhandlungen luden zum Einkaufen und Verweilen ein. Gleichzeitig dienten jene Passagen der Geburtsstunde des aktiven öffentlichen Raums. Man ging nun aus reinem Freizeitvergnügen vor die Tür und flanierte durch die Straßen. Um dem Großstadtstress effektiv entgegen zu wirken, führte man in den Passagen – laut Benjamin – auch hin und wieder eine Schildkröte an der Leine mit sich. Dieser Trend zur Entschleunigung wird sich wohl nicht noch einmal durchsetzen. Wir waren in den vergangenen Jahren gänzlich ohne Schildkröte, dafür aber mit einer Kamera in einigen der Passagen unterwegs und stellen euch nun zumindest drei davon vor.
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