Eine Frage der Perspektive
Aber worum geht es den meist männlichen Catcallern eigentlich? Und warum wird es so selten ernst genommen? „Viele Männer machen das ganz unbedacht und denken, dass das Komplimente wären“, erklärt uns Lisanne. Sie habe dafür zwar keine Studie auf Tasche, aber nach eigener Auseinandersetzung mit dem Thema sei schon auffällig, dass es besonders Männern an Komplimenten mangeln würde. Sie bekämen in der Familie selten welche und wären daher auch selbst im Verteilen von Komplimenten sehr ungeschickt. Als sie einmal einen angekreideten Catcall auf Instagram veröffentlich hatten, bei dem es darum ging, dass eine junge Frau doch mal „Schlitz zeigen“ sollte, brach unter dem Post eine wichtige Diskussion aus. Ein männlicher User kommentierte den Beitrag damit, dass er das als Frau doch lustig gefunden hätte. Für Lisanne liegt hier das Problem in der Perspektive und eine andere Followerin erkannte dies auch. Eine Followerin merkte an, dass das als großer starker Mann, der sich wehren kann leicht gesagt ist, erinnert sich Lisanne. Es ist auch etwas anderes, wenn man es jeden Tag hört. Das Machtgefälle wird in diesem Falle als entscheidender Faktor nicht mit einbezogen. Wenn es um Catcalls gegenüber Minderjährigen geht, versuchen sich Männer zudem gerne damit herauszureden, dass man „den Mädchen von heute das Alter doch gar nicht mehr ansieht“. „Wenn du sie noch nicht siezen würdest, dann sind sie zu jung“, sagt Lisanne, betont aber dabei, dass Catcalls auch bei volljährigen Frauen unangebracht sind. Auch hier ist also Unbedachtheit und Ignoranz am Werk.
Bei weitaus härteren Sachen handle es sich aber natürlich längst nicht mehr um ein ungelenkes Kompliment. „Hierbei geht es um Macht. Man muss dem Gegenüber auch ein Mitspracherecht geben“, erklärt uns Lisanne weiter. Bei Fällen von Exhibitionismus, sexueller Nötigung etc. wird dieses Mitspracherecht entzogen. Die gesamte Macht liegt beim Täter. „Oh, dein Penis in der Straßenbahn, das ist aber nett! – Das denkt sich keine Frau“, sagt Lisanne und wir stimmen zu. Um zumindest die erste Gruppe zu erreichen und gleichzeitig auch das Thema weiter ins Bewusstsein der Menschen zu rücken, geben CatcallsOfHannover mittlerweile Workshops. Dabei werden den Teilnehmenden Sprüche vorgelesen, die dem Team eingesendet wurden. Die Teilnehmenden müssen dann entscheiden, ob dies Dinge wären, die sie zu Freund*innen, oder aber auch zu Fremden sagen würden. Auf diese Weise soll eine Sensibilisierung entstehen und ein moralischer Kompass vermittelt werden. Zudem solle vor allem jungen Männern beigebracht werden, dass sie sich die Zustimmung von ihrem Gegenüber einholen. „Das ist doch sexy!“, sagt Lisanne, wenn es darum geht, dass ein Mann zunächst fragt, ob er überhaupt einfach so Kontakt zu ihr aufnehmen darf.
Ein Stinkefinger ist ein Sieg
Das Ankreiden soll ganz klar ein Bewusstsein schaffen und hoffentlich zum Nachdenken anregen. Lisanne selbst hat an sich bereits gemerkt, dass sich vieles auch in ihr verändert hat. Während es ihr früher nicht möglich war, auf Catcalls irgendwie zu reagieren, hat sie vor einiger Zeit eine Situation einfach mal mit einem Stinkefinger quittiert. Eine kleine Geste mit einem starken Statement. „Ich hätte es aber wohl nicht gemacht, wenn ich nicht in einer Gruppe unterwegs gewesen wäre“, sagt sie und wir können das verstehen. Aber auch im Zuge ihrer ehrenamtlichen Tätigkeit für eine Kirchengemeinde hat sie gemerkt, dass Catcalling und der bisherige Umgang damit seine Wurzeln noch viel tiefer hat. Nämlich darin, wie wir mit unseren eigenen Kindern umgehen. Dass wir immerzu Grenzen überschreiten, in dem wir Mädchen zum Lächeln auffordern, alle brav sein und teilen sollen und natürlich dem Großonkel an Weihnachten ein Kuss auf die Wange gedrückt werden soll. Auch wenn man das wirklich gar nicht will. Deswegen hat Lisanne auch zunächst nachgefragt, ob sie einem Mädchen in der Kirche die Kekskrümel vom Kleid abklopfen darf. „Früher hätte ich das einfach gemacht“, so Lisanne. Jetzt weiß sie es aber besser.
Nun wird es bereits abends wieder früher dunkel und zumindest als Frau fühlt man sich alleine draußen bereits ab 19 Uhr wieder deutlich unsicherer. Ja, wir wechseln die Straßenseiten, wenn uns mal wieder „ein komischer Typ“ entgegen kommt. Oder wir holen reflexartig das Handy aus der Tasche, wenn „ein komischer Typ“ in die Bahn einsteigt. Wir haben nämlich bereits oft ein Radar für den „komischen Typen“. Leider. Aber zumindest hat Hannover seine eigene Catcallsof-Crew, die sich unermüdlich dafür einsetzt, dass wir nicht vergessen, was sich dringend ändern muss und dafür möchten wir Lisanne und dem ganzen Team auf diesem Wege danken. Gleichzeitig danken wir all jenen, die den Mut aufbringen ihre persönlichen Erfahrungen mit CatcallsOfHannover zu teilen. Wir wissen leider selbst, dass es ungemein schwierig ist das Schweigen zu brechen. Wenn du jetzt CatcallsOfHannover unterstützen möchtest, dann kannst du das auf zwei Wegen tun. Erstens kannst du ihren Instagram-Account abonnieren und die Beiträge teilen. So rückt die Initiative noch mehr ins Bewusstsein. Zweitens kannst du jederzeit beim Salon in Linden-Mitte (Lindener Marktplatz 12) oder aber beim Designkombinat in der Nordstadt (Paulstraße 1A, Ecke Engelbosteler Damm) Kreide spenden. Wir werden das auf jeden Fall tun!
Für den Notfall kommen hier ein paar Adressen von Beratungsstellen für euch:
Non-Binary: Hier kann dir der Andersraum e.V. in der Asternstraße oder aber QueerUnity – Das queere Jugendzentrum auf der Königsworther Straße weiterhelfen.
Für Mädchen und Frauen: Der Frauennotruf Hannover kann euch mit einem breitgefächerten Hilfs- und Beratungsangebot zur Seite stehen. Auf der verlinkten Website findet ihr zudem weitere Nummern für den akuten Notfall. Frauen mit Migrationshintergrund finden Hilfe bei der Frauenberatung Suana vom kargah e.V. Eine weitere fachberatung für Mädchen und Frauen, die sexuelle Gewalt erfahren haben ist der Violetta e.V. in der Rotermundstraße.
Für Jungen und Männer: Hilfe könnt ihr beispielsweise beim Männerbüro Hannover finden, oder aber beim Hilfetelefon Gewalt an Männern.
(Fotos: Header (stadt.land.stories), 1 (stadt.land.stories), 2-6 (CatcallsOfHannover))
Seiten: 1 2
Kommentaren