2019 wurden in Niedersachsen 1043 Fälle von Vergewaltigung, sexueller Nötigung und sexueller Übergriffe angezeigt. 910 davon konnten aufgeklärt werden. Von den 910 Tatverdächtigen waren es 660 Männer über 21 Jahre, 149 junge Erwachsene im Alter zwischen 18 und 21 Jahren, 127 Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren und 12 Kinder unter 14 Jahren. Der Weisse Ring e.V. spricht davon, dass statistisch gesehen alle drei Minuten in Deutschland ein Mensch Opfer von sexualisierter Gewalt wird. Aus der Studie der Europäischen Grundrechteagentur geht hervor, dass jede dritte Frau, die älter als 15 Jahre ist, schon mindestens einmal sexualisierte Gewalt erlebt hat.
Ich bin eine davon und das Traurige daran ist, dass ich mir ziemlich sicher bin, dass nahezu jede Frau in meinem Freundes- und Bekanntenkreis ebenfalls die Hand heben würde. Noch trauriger ist, dass ich nicht nur einmal sexualisierte Gewalt erlebt habe und dass das auch mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit für die Frauen in meinem Freundes- und Bekanntenkreis gilt. Manch ein Erlebnis ist klar als sexuelle Belästigung oder als sexueller Übergriff erkennbar, nicht selten jedoch ist in den Köpfen von uns Frauen verankert, „dass das jetzt doch gar nicht so schlimm“ war. Oder aber wir sind einfach nur irgendwie beschämt und haben einen Knoten im Magen, der Rest versinkt im Nebel. Vor allem in Hinsicht auf das sogenannte Catcalling, was als anzügliches/sexuelles Rufen, Pfeifen und ähnliches definiert wird, wird uns Frauen gerne eingeredet, dass wir das doch als „Kompliment“ nehmen sollten.
So oder so ähnlich muss es auch Lisanne ergangen sein, der Gründerin von CatcallsOfHannover. „Ich bin sehr privilegiert aufgewachsen“, erzählt sie mir. Mit Ungerechtigkeit hat sie sich zwar auch schon früher auseinandergesetzt, aber das war für sie immer etwas, was anderen passierte, nicht ihr selbst. Erst im Studium fing sie nicht nur an, sich näher mit Feminismus zu beschäftigen, sondern auch eigene Erlebnisse aus der Vergangenheit unter bestimmten Gesichtspunkten zu reflektieren. Im Rahmen dessen kam sie auch erstmalig mit Sophie Sandberg und ihrer 2016 ins Leben gerufene Intitiative Catcalls of New York in Berührung. Hierbei werden Catcalls im öffentlichen Raum genau dort mit Kreide auf den Gehweg oder die Straße geschrieben, wo sie geschehen sind. Mit ihrer Arbeit versucht Sandberg seitdem nicht nur auf sexuelle Belästigung im öffentlichen Raum aufmerksam zu machen, sondern auch genau diesen Raum durch das Ankreiden wieder zurückzuerobern.
„Mir war vorher nicht klar, dass das, was mir passiert ist schon Belästigung ist“
Aber zurück nach Hannover. Als Lisanne eines abends nach ihrer Arbeit in einem Hotel auf dem Heimweg war, wurde sie nahe des Klagesmarkts gecatcalled. Es war dunkel, sie war alleine, die Männer wie so oft in einer Gruppe unterwegs. Es gab ein paar Pfiffe, ein paar blöde Sprüche. Nichts, was Lisanne eigentlich nicht schon kannte, aber dieser eine Moment brachte das Fass zum Überlaufen. Irgendwie waren sie auf einmal alle da. All die Momente, in denen Jungs oder Männer übergriffig geworden waren. Sei es verbal, oder aber durch bloße Andeutungen, wie zum Beispiel mit etwa 13 Jahren auf dem Wochenmarkt, als zwei Jungen versuchten, ihr im Gedränge in den Schritt zu greifen. „Mir war vorher nicht klar, dass das, was mir passiert ist, schon Belästigung ist“, erzählt sie uns. Am nächsten Tag hatte Lisanne keine Vorlesungen oder Seminare, aber einen Plan. Sie besorgte sich Kreide, schnappte sich ihr Fahrrad und begann in der Innenstadt Hannovers ihre eigenen Erlebnisse anzukreiden. Beim ersten Mal war sie noch nervös und flüchtete danach schnell von ihrem Kreidewerk. Beim zweiten Mal war sie bereits sicherer und gab sich besonders viel Mühe. „Es hat den ganzen Tag gedauert“, so Lisanne.
Lisanne wollte das, was Sophie Sandberg in New York macht, auch für Hannover haben. Kurzerhand kontaktierte sie CatcallsofNYC und bat darum, mit dem interaktiven Projekt auch in der niedersächsischen Landeshauptstadt aktiv werden zu können. New York stimmte zu und nun läuft die Initiative hier im Norden bereits seit 2019. Dass der Bedarf am Ankreiden groß ist, sollte Lisanne schon früh erfahren. Von Beginn an stellten ihr Passant*innen nicht nur Fragen zu ihrer Aktion, sondern berichteten auch von ihren eigenen Erlebnissen. Im Gedächtnis geblieben ist ihr von den Anfängen vor allem, als ihr während einer ihrer ersten Touren zwei junge Frauen erzählten, dass ihnen bereits Beleidigungen wie „Kopftuchschlampe“ hinterher gerufen wurden. Oder aber auch „Raus aus Deutschland“. „Das hat mich komplett überfordert“, erzählt uns Lisanne. Während sie mit selbst erlebten Ungerechtigkeiten noch irgendwie umzugehen weiß, treffen sie andere Dinge wie beispielsweise Rassismus immer noch sehr hart. Klar wurde dadurch allerdings, dass das Unternehmen CatcallsOfHannover langfristig gesehen nicht alleine zu stemmen war. Dafür gab es einfach zu viel zum Ankreiden.
Triggerwarnung!
Deswegen geht Lisanne mittlerweile nicht mehr alleine Ankreiden, sondern ist Teil eines achtzehnköpfigen Teams, das sich straff organisiert hat. Es muss schließlich nicht nur angekreidet werden, sondern auch die eingehende Flut von geschilderten Catcalls bearbeitet und koordiniert werden. Hinzu kommt, dass der Instagram-Account als wichtiges Werkzeug gut betreut werden muss und auch Interviewanfragen bearbeitet werden müssen. Kein leichtes Unterfangen wenn man bedenkt, dass CatcallsOfHannover „nebenbei“ gemacht wird. Gerade die Einsendungen von Catcalls nehmen kein Ende. Das Team bekommt weitaus mehr geschickt, als es überhaupt veröffentlichen könnte. „Wir machen nur noch Sachen, die im öffentlichen Raum in Hannover passiert sind“, erzählt uns Lisanne. Aber leider sind es nicht nur Fälle von Belästigungen, die den Weg zu CatcallsOfHannover finden, auch Vergewaltigungen haben sie schon gemeldet bekommen. Hier nimmt das Team natürlich die Tat ernst und ermutigt die Opfer sich bei der Polizei und/oder einer Beratungsstelle Hilfe zu suchen. „Das Ding ist, dass wir das alle nicht gelernt haben“, sagt Lisanne. Ankreiden möchten sie solche Taten auch nicht, da es gerade für Opfer öffentliche Trigger wären und das können sie nicht verantworten.
Um auf die Trigger im Team Rücksicht zu nehmen, sind alle Beteiligten im Umgang nicht nur sehr offen und vertraut miteinander, sondern haben zudem hinsichtlich der Einsendungen bewusst eine Person sitzen, die mit allen Triggerpunkten vertraut ist und dementsprechend auch das Ankreiden koordiniert. Immer drum herum kommt aber auch Lisanne nicht und denkt sich bei der ein oder anderen Nachricht, dass sie sie vielleicht besser nicht hätte lesen sollen. Einfach für den eigenen Schutz. Das Mädchenhaus13 in Linden hat dem gesamten Team nun eine Supervision angeboten, damit alle einmal über die bisherigen Erlebnisse sprechen können. Denn auch wenn Lisanne sagt, dass sie alle mit der Zeit ein wenig abgestumpft seien, erkennt man doch gerade daran, dass das Ankreiden seine Spuren hinterlassen hat. Ganz ohne sind die Catcalls nämlich nicht. Das bewies erst vor einigen Wochen die große Schulaktion von CatcallsOfHannover, wo sie sexuelle Belästigung in Bildungseinrichtungen angekreidet haben. Einrichtungen, die doch normalerweise den Schutz der Heranwachsenden gewährleisten sollten.
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