Springe zum Inhalt →

Zu Gast bei der Norddeutschen Tanzwerkstatt

Oder auch: „You can change your life in a dance class“

Eigentlich hört man schon im Innenhof der Norddeutschen Tanzwerkstatt (NTW) sanfte Klavierklänge und lebendiges Gewusel. Eigentlich, wenn da nicht gerade die Pandemie wäre. Heute empfängt mich ein Fieberthermometer, das bestätigt, dass ich keine erhöhte Temperatur habe. Warm wird es aber dennoch direkt, denn hinter dem Thermometer steht Inhaberin Gabriele Hägele, Herz und Seele der Norddeutschen Tanzwerkstatt, mit ihrem unverkennbaren Leuchten in den Augen. Ihr sonniges Lächeln wird zwar von einer FFP2-Maske bedeckt, aber dennoch kann ich es spüren. Seit Oktober 2020 waren wir einige Male zu Besuch in der Norddeutschen Tanzwerkstatt. Von Tanz selbst haben wir keinerlei Ahnung, aber man muss kein Profi sein, um an diesem Ort schnell zu erkennen, dass er für so viele Menschen unterschiedlichen Alters und Herkunft eine ganz besonders wichtige Rolle im Leben einnimmt. Nicht umsonst hat die NTW das Motto „You can change your life in a dance class“. Aber fangen wir von vorne an.

Inhaberin Gabriele Hägele ist Herz und Seele der Norddeutschen Tanzwerkstatt

Dass Gabriele Hägele, die von allen der rund 500 Mitgliedern der Tanzwerkstatt nur liebevoll Gabi genannt wird, beim Ballett gelandet ist, ist tatsächlich dem Zufall geschuldet. Eigentlich wollte sie turnen, aber die Tanzschule Brakel verteilte gleichzeitig Werbeflyer für den Ballettunterricht. „Das war unbekannt, das hat gereizt“, erzählt uns Gabi. Ihre ersten Tanzschritte machte sie noch in einem überschaubaren Unterrichtsraum direkt unterm Dach, der mit Teppich ausgelegt war. Eine echte Abwechslung für ein Mädchen, das normalerweise die meiste Zeit mit ihren Freund*innen an der frischen Luft verbringt. Trotz aller Liebe zur Draußen-Kindheit war es aber nun um Gabi geschehen. Die Stärke und Eleganz, die ihre Ballettlehrerin ausstrahlte, faszinierten und inspirierten sie und so bewarb sie sich bereits mit 14 Jahren voller Eifer für die damalige Vorbereitungsklasse der Hochschule für Musik und Theater in Hannover.

„Bevor du Gabi bist, bist du Tänzerin“

Was nun folgte war einerseits eine klassische Ballett-Karriere, andererseits aber auch ein steiniger und aufregender Weg. Denn Gabi merkte schnell, dass sie technisch hinter ihren Mitschüler*innen zurücklag. Und auch, dass es nicht einfach werden würde, die zahlreichen Ballettstunden mit der Schule zu vereinbaren. Nicht selten fiel die noch junge Gabi erst spät abends erschöpft ins Bett. Trotzdem ließ sie sich nicht eine Sekunde entmutigen, studierte nicht nur Bühnentanz in Hannover, sondern schloss ihre Ausbildung zudem mit Bestnoten ab. Und bereits im letzten Studienjahr bekam sie einen Elevenvertrag für die Staatsoper Hannover angeboten. Hier sollte sie schlussendlich auch bleiben. Zunächst für einige Jahre mit einem Gruppenvertrag, anschließend sogar als Solistin. Ihre Zeit an der Staatsoper war für Gabi genau das Richtige. Neben dem klassischen Ballett konnte sie sich hier in den unterschiedlichsten Tanzstilen ausprobieren und weiterentwickeln. Anders als heute war der Spielplan so voll, dass die Tänzer*innen sehr schnell viel Praxiserfahrung sammeln konnten. Gabi tanzte alles und vor allem für jedes Format. Von der Oper bis hin zum Musical und auch auf High Heels. Mit dabei immer der herzliche Zusammenhalt des gesamten Teams: „Man war auch mit dem Chor per Du“. Dass sie nicht die optimalen körperlichen Voraussetzungen mitbrachte, störte damals weniger. Heute hingegen sei vieles anders: „Das Niveau ist so dermaßen gestiegen, es ist wie im Leistungssport“, erzählt sie uns. Das läge vor allem daran, dass weniger Jobs zu vergeben sind und die Ansprüche dadurch stark gestiegen seien. Das sei weder besser noch schlechter, nur ganz einfach anders als zu ihrer Zeit auf der Bühne betont Gabi.

Wer es als Tänzer*in weit schaffen möchte, braucht jede Menge Disziplin und Leidenschaft

Mit Mitte 30 soll das Leben Gabriele Hägele aber einen Wink mit dem Zaunpfahl geben. Zunächst wurde sie von ihrer ehemaligen Tanzschule Brakel als Schwangerschaftsvertretung für den klassischen Ballettunterricht angeworben. Parallel zu ihrer Solisten-Tätigkeit und dem Musical-Comedy-Projekt mit ihrer Schwester stand sie fortan zunächst montags, dann auch donnerstags mit jungen Talenten an der Stange. Und Gabi merkte schnell, dass sie auch in diesem Bereich sehr viel zu geben hat. Als die Intendanz an der Staatsoper wechselte, war es für Gabi der richtige Moment, um die Bühne zu verlassen. Die vielen Jahren körperlicher Anstrengungen hatten ohnehin zahlreiche Verletzungen mit sich gezogen. Harte Arbeit hinterlässt nun mal ihre Spuren. Der Umstieg von der Bühne in den Ballettunterricht war trotzdem nicht fließend oder einfach. „Bevor du Gabi bist, bist du Tänzerin“, gibt Gabriele Hägele zu. Das Tanzen war ihre Identität, die kann man nicht einfach wie einen Mantel abstreifen. Aber genau wie auch das Tanzen eine ungeahnte Leidenschaft in ihr entfacht hatte, vermochte es nun das Unterrichten. Und Gabis Visionen für den idealen Tanzunterricht sind bis heute klar. Jede*r soll in ihren/seinen Talenten gesehen und bestärkt werden. Das Besondere in jedem Menschen soll angenommen und gefördert werden. Der Gemeinschaftssinn, den sie an der Staatsoper erlebt hat, soll es auch in die Unterrichtsräume schaffen. Und wer hart an sich arbeitet, der soll auch belohnt werden. Für diese Visionen musste nun mal eine eigene Tanzschule her.

Erfolg auf drei Stunden Schlaf

Im April 2010 fanden die ersten Unterrichtsstunden der Norddeutschen Tanzwerkstatt in Hannover-Linden statt. Und Gabi musste so viel arbeiten wie nie zuvor. „Das erste halbe Jahr hatte ich keinen Pianisten“, sagt sie und lacht dabei. Eine Bürokraft konnte sie erst nach zwei oder drei Jahren einstellen. Und wenn man die Kaffeemaschine anstellte, flog auch schon mal die Sicherung raus. „Ich bekam höchstens drei Stunden Schlaf pro Nacht“, erzählt uns Gabi. Das Herzblut, das sie in ihre eigene Tanzschule steckte, sollte sich aber schon schnell auszahlen. Für Renovierungsarbeiten packten beispielsweise ganz freiwillig auch zahlreiche ihre Schüler*innen mit an. Da wurden Türen abgeschliffen, der Boden herausgerissen und die Wände gestrichen. Es war und ist nicht nur Gabis Enthusiasmus, der ansteckt, sondern ihre Herzlichkeit, die alle miteinander verbindet. Auf die Anfangszeiten kann sie heute mit einem stolzen Lächeln zurückblicken. Mittlerweile dehnt sich die Tanzwerkstatt über zwei Etagen aus. Die rund 500 Mitglieder werden von einem etwa 20-köpfigen Team unterrichtet. Neben klassischen Ballett finden hier auch Kurse in den Tanzstilen Irish Dance, Hip Hop, Modern-Contemporary, Tap Dance sowie Jazz Dance und Modern Jazz statt. Getanzt wird hier von Kindesbeinen an und nach oben sind keine Grenzen gesetzt. Dafür sorgen Kurse wie das TraumTänzer Ballett oder auch die Spätbewegten. Auch eine Company kann die Tanzwerkstatt seit 2019 ihr Eigen nennen. „Ich habe mich lange dagegen gesträubt“, erklärt Gabi. Denn beim Begriff Company schwingt etwas Elitäres mit und Kern der Tanzschule soll doch sein, dass sich jeder Mensch angenommen und geschätzt fühlt. Durch das breite Kursangebot für jedes Leistungsniveau denkt Gabi allerdings um, denn jene Kids, die sich besonders anstrengen, sollen nun mal auch angemessen belohnt werden. Jeden zweiten Samstag wird für rund drei Stunden unter den gewissenhaften Blicken von Tänzer und Tanzpädagoge Philip Johnson und Solistin Michèle Seydoux hart trainiert.

Volle Konzentration auch beim Kurs Modern-Contemporary

Das Konzept geht in jeder Hinsicht auf und damit ist nicht nur das Kursangebot gemeint. Während der verhältnismäßig kurzen Periode vergangenen Herbst, in der die Tanzschule ihre Türen wieder öffnen durfte, spielten wir Mäuschen. Zum Beispiel besuchten wir die Contemporary Class unter der Leitung von Cara Rother, bei der uns schon beim Zusehen schwindelig wurde. Hier fliegen die Beine in die Luft und die Luft aus den Lungen. Hier scheint Magie im Spiel zu sein, denn jede*r der Tänzer*innen weiß entweder mit nur sehr knapper Anleitung oder sogar gänzlich ohne sofort, welche Schritte gefordert sind. Und dabei wird gelacht und gegrinst, als ob es die leichteste und angenehmste Anstrengung der Welt wäre. Alle kommen sie gerne hierher, vor allem nach einem harten Tag. Für Annika, die eigentlich ausgebildete Musicaldarstellerin ist, kam der Unterricht bei Cara während der Pandemie sehr gelegen, denn so konnte sie weiterhin fit bleiben. Außerdem liebt sie die Mischung von Caras Unterricht und den Umstand, dass hier wirklich jede*r willkommen ist. Katharina ist 23 Jahre alt und kommt sogar extra aus Hildesheim angereist. Sie tanzt seit ihrem 14. Lebensjahr und wurde durch den Hochschulsport auf Caras Unterricht aufmerksam. Mira ist 18 und hat bereits mit fünf Jahren angefangen zu tanzen, aber erst nach einem Exkurs in die Welt des Leistungssports fand sie in der Norddeutschen Tanzwerkstatt wieder ihren Platz an der Stange. Nun trainiert sie mehrfach die Woche unterschiedliche Stile und möchte nach dem Abitur am liebsten Tanz studieren. Das breit angelegte Kursangebot und die herzliche Atmosphäre bieten für die Vorbereitung den idealen Rahmen. Aber ganz unabhängig davon, ob sie neu in der Tanzwerkstatt sind oder aber bisher nur bei Cara Unterricht hatten – Gabi kennt all ihre Namen. Und schweißt damit zusammen. Wer hier einmal anfängt zu tanzen, der bleibt nach Möglichkeit auch hier.

Tanz kennt keine Grenzen

Die Irish Dance-Klassen sind altersübergreifend und bringen ein Stück Irland direkt nach Hannover

Bedingt durch die Pandemie ließ es sich bereits Ende vergangenen Jahres nicht mehr gut und sicher reisen, deswegen wollten wir uns als nächsten Stop unbedingt für einen Abend der Irish Dance Class von Melanie Weiss anschließen. Ein bisschen Irland-Gefühl zum Mitnehmen sozusagen. Dass wir jedoch schlussendlich statt beobachtend hinter der Kamera auf einmal auf Socken mittanzen würden, damit hatten wir nicht gerechnet. Aber Melanies Leidenschaft machte auch vor uns nicht Halt und so fügten wir uns den keltischen Klängen, wenn auch sehr verbesserungswürdig. Voller Ehrfurcht blickten wir nebenbei auf ein Mutter-Tochter-Gespann, dass den Kurs nicht nur als gemeinsame Zeit zu nutzen schien, sondern zudem ganz schön flinke Sohlen und eine ordentliche Portion Ausdauer besitzt. Das ist an einem Abend nicht zu erlernen. Melanie machte uns aber anschließend Mut. Es ist alles nur eine Frage der Übung. Sie selbst hat 1999 tatsächlich an der Tanzschule Brakel bei Gabi mit Irish Dance begonnen. Nun unterrichtet sie nicht nur selbst, sondern hat zahlreiche Weiterbildungen bei namenhaften Tanzlehrer*innen durchlaufen. Bereits seit 2011 ist sie ein fester Bestandteil des Teams der NTW. Und wir konnten auf diese Weise mitten in Hannover ein Stück Irland finden.

Bei den Spätbewegten wird mit viel Lebensfreude ab 45 Jahren getanzt

Etwas ruhiger, aber mit nicht weniger Freude am Tanz geht es bei den Spätbewegten zu. Hier tanzt, wer mindestens 45 Jahre alt ist und Freude an Bewegung und tänzerischen Ausdruck hat. Vorerfahrungen muss niemand mitbringen und auf körperliche Einschränkungen wird von Kursleiter Mathias stets Rücksicht genommen. Gudrun ist 77 Jahre alt und tanzt bereits seit satten zehn Jahren in der Norddeutschen Tanzwerkstatt. Auf die Spätbewegten ist sie durch den vorangegangenen Kurs von Mathias an der Staatsoper aufmerksam geworden. Er hat sie sozusagen mit hergebracht. Das Tanzen selbst begleitet sie aber schon viel länger und sie hat auch bereits einiges ausprobiert, wie zum Beispiel Afrotanz. „Beim Tanzen kann ich abschalten“, erzählt mir Gudrun. Daneben interessiert sie sich aber vor allem für die verschiedenen Facetten von Tanz, zum Beispiel für den kommunikativen Aspekt oder auch für Tanz im Rahmen religiöser Riten. Erika Brigitte ist 88 Jahre alt und zum Tanz hat sie ihre Liebe zur Musik geführt. Zum Beispiel war sie früher Teil des Chors der Musikhochschule. Auch sie kam zur NTW über den vorherigen Kurs von Mathias an der Staatsoper und liebt hier vor allem die Gemeinschaft und die Vielfalt des Angebots. Klar also, dass sie neben den Spätbewegten auch Modern/Contemporary tanzt. Insgesamt trainiert sie bis zu dreimal die Woche und ja, das finden wir auch ganz schön bemerkenswert.

Seiten: 1 2

Veröffentlicht in Stories

2 Kommentare

  1. Wow, unglaublich zu wissen, dass Cara schon mit 5 Jahren mit dem Ballettunterricht begonnen hat. Meine Schwester ist schon Mitte 20 und möchte trotzdem mit Ballett anfangen. Sie sucht gerade nach einem geeigneten Ballettunterricht. Danke!

  2. Vielen Dank für den Beitrag! Gerade während der Pandemie wurde das Wohnzimmer zum Tanzsaal hergerichtet und nun noch dort geübt. Meine Schwester tanzt für ihr Leben gerne und freut sich, das Sie wieder persönlich am Ballettunterricht teilnehmen kann.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.