„Wir nehmen uns unsere Plätze selbst. Wir fragen nicht.“, erzählt er mir. Das war und ist das Credo von Henning Chadde und den Akteur*innen um ihn herum. Es sollte überall gelesen werden, wo es geht. Und genauso wichtig war, dass es ebenso die Kassen füllen kann. „Jede Punker-Hütte muss im Winter geheizt werden“, sagte er sich schon damals in den 1990ern und betrachtet die Kultur- und Veranstaltungsbranche gleichermaßen unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Jede Kabelträgerin muss bezahlt werden, jede Poetin, jeder Poet braucht Gage. Und Jede und Jeder von außerhalb braucht einen Platz zum Schlafen, dazu Essen und Trinken. Es ist vor allem die Wertigkeit der Literatur und der eigenen Arbeit, die nicht aus den Augen verloren werden darf. Und auf einmal ist Henning Chadde nicht nur mit im Spiel, sondern auch ein Gamechanger, der Eintritt verlangte.
Der große Knackpunkt kommt aber dann doch im Rahmen der BuchFrust. Zu viele Autor*innen hatten sich für die Lesungen angemeldet, die Zeit reichte einfach nicht für alle aus. Kurzerhand entschlossen Chadde und Flenter, eine Dichterschlacht am Ende des Festivals stattfinden zu lassen. Geboren war die HangOver Poets Night. Bis zu sieben Gruppen mit je sieben Autor*innen lasen Sonntagabend in der 60er-Jahre-Halle der Faust. Während man im Literaturhaus und anderswo bei Lesungen eine Stecknadel hätte fallen hören können, brach hier nun völlige Anarchie aus. Gewollt, das ist klar. Da wurden Autor*innen vom Publikum bejubelt und derbe beschimpft, pöbelten die Literat*innen selbstbewusst zurück, wurden Brillen oder Texte getauscht, das Publikum auf die Bühne geholt und der Jury die Bewertungskarten geklaut oder sie gleich kurzerhand ausgewechselt. „Das war kein handelsüblicher Underground mehr, das war Off-Literatur im besten Sinne“, sagt Chadde. Schnell hatten sie den Ruf als die „jungen Wilden“, wurden als „Bukowskis Erben“ bezeichnet. Das Publikum dankte es ihnen mit der Bitte nach mehr. Noch mehr unkonventionellen, abseitigen Literaturveranstaltungen, noch mehr Lebendigkeit.
„Wir haben uns das Publikum auch quasi erzogen“
Von Poetry Slam hatte man zu dieser Zeit hier und da natürlich bereits gehört, auch wenn man es noch klassisch „Dichterschlacht“ nannte. Ganz langsam formte sich in Berlin und München eine Szene. „München war sozusagen der Nachlassverwalter“, sagt Chadde grinsend. Ko Bylanzky und Rayl Patzak aus München waren es nämlich, die, begeistert von den ersten HangOver Poet Nights, schließlich im Münchener Substanz das Format Poetry Slam auch in Süddeutschland etablierten. Eigentlich stand der typische Poetry Slam mit seinem Regelwerk diametral zu dem, was Chadde ursprünglich wollte. Eine Dichterschlacht im Stil der HangOver Poet Nights sollte dann aber doch häufiger stattfinden, allerdings zu eigenen Bedingungen. Während sich in anderen großen Metropolen die Fünf-Minuten-Regel schnell durchsetzte, war das Chadde und seinem Slam-Mitstreiter der ersten Stunde, Jan Egge Sedelies, zu wenig. „Das fanden wir relativ unsexy und absolut unliterarisch, da kriegst du ja keine Kurzgeschichte durch“, sagt Chadde.
In Hannover stellte man daher kurzerhand die Vortrags-Uhren auf sieben Minuten um. Und gab somit vor allem all jenen Kurzgeschichten-Autor*innen die Möglichkeit zur Teilnahme, für deren Erzählstimmen man schließlich Platz schaffen wollte. Und noch viel mehr, denn in sieben Minuten lässt sich deutlich mehr Substanz verpacken als in fünf. Weniger Schenkelklopfer, dafür mehr kritisches Denken und Tiefgang. Kurz: ernstzunehmender literarischer Anspruch. „Wir haben uns das Publikum auch quasi erzogen“, gibt Chadde zu. Auf der einen Seite natürlich dadurch, dass durch die Vortragslänge deutlich ruhigere, ernstere Texte zugelassen werden konnten. Auf der anderen Seite, weil beispielsweise Unruhestifter, die weiblichen Poetinnen sexistische Sprüche entgegen schleuderten oder lautstark über die vorgetragenen Texte lästerten, sofort ihrer Plätze verwiesen wurden. Haltung ist eben nicht nur was für die Freizeit. „Hannover bekam so den Ruf, dass man hier auch mit ernsten Texten gewinnen konnte und das Publikum das auch mitgeht“, sagt Chadde nicht ohne Stolz. Genau dieser Umstand katapultierte den Poetry Slam in Hannover auf die Überholspur.
Endlich Nachwuchs!
Die Trommeln der hannoverschen Szene reichten da schon lange über die Stadtgrenzen hinaus. Auch bis nach Lehrte, wo sich die beiden Open Mic-Liebhaber und -Veranstalter Jan Egge Sedelies und Tobias Kunze kennengelernt hatten. Beide folgten bereits vor dem Macht Worte!-Start dem Ruf und stießen in Hannover auf Henning Chadde, der zunächst ganz salopp dachte: „Super, endlich Nachwuchs!“. Anstatt ihn aber auf irgendeiner Ebene abzulösen, vervollständigten sie kurzerhand das Team. Ein Glück, denn alle drei schienen die selben Visionen zu haben und wollten Lesungen und Poetry Slams als lebendige Literaturshows begreifen. Dazu gehört auch, dass die Moderation nicht bloßes Beiwerk, sondern mittragender Teil der Show ist. Im September 2004 geht der erste Poetry Slam unter dem Dach von Macht Worte! an den Start. Was Macht Worte! anders als andere Poetry Slams machte, war der Umstand, dass von Beginn an auch viel Wert auf Themen-Slams gelegt wurde. Egal ob Erotik-Slam, Rap-, oder Klimaschutz-Slam oder Slam gegen Rassismus – das Konzept zieht die Menschen bis heute magisch an. Das muss sich auch Wolf-Dieter Mechler gedacht haben, der damalige Ausstellungsleiter des Historischen Museums Hannover. Warum nicht einmal ein dann doch steifes Museumspublikum herausfordern und ihm kernige Live-Literatur anbieten? Kurzerhand wurde das Macht Worte!-Team engagiert und veranstaltete von 2007 bis 2010 regelmäßig zu verschiedenen Ausstellungen eine Lesebühne und einen Poetry Slam.
Mittlerweile hatte sich Chadde nicht nur zusätzlich zum Online-Redakteur fortbilden lassen, sondern auch zum Kulturmanager. Während er Macht Worte! aufbaute, arbeitete er als Kulturjournalist, gründete zusammen mit Jörg Smotlacha Hannovers Online-Journal langeleine.de und stemmte ebenfalls mit ihm etliche Jahre erfolgreich die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit für das Kulturzentrum Faust. Seine literarischen Texte präsentierte Henning Chadde parallel dazu regelmäßig im Rahmen eigener Formate. Beispielweise mit Christian Sölter in den langjährigen Lesebühnenformaten Kasulkes Sprechstunde und Die Überholspurpiraten oder aber gemeinsam mit Kersten Flenter, Tobias Kunze und Johannes Weigel als Hannovers heißeste Lesebühne – FCKW. Mittlerweile bedient und unterhält er alle drei Monate sein Stammpublikum gemeinsam mit Bernard Hoffmeister unter dem Namen Die Literaturensöhne. Stets mit einem geladenen Special Guest aus den gemeinsamen, bühnenliterarischen Reihen. Der Betätigung noch nicht genug, trat Chadde obendrein als Herausgeber diverser Poetry Slam- und Text-Anthologien auf. Zu nennen sind hier vor allem Wortgewitter – Junge Literatur aus Hannover aus dem Jahre 2005 (Hörbuch, zusammen mit dem o-ton-team Hannover), sowie die Textsammlungen Buch oder Bier? (2012, zusammen mit Jörg Smotlacha) und Ver(w)ortungen – Lesebuch Lindener Autorinnen und Autoren (2014, zusammen mit Kersten Flenter).
Und schon sind wir in der neueren Geschichte Henning Chaddes angekommen. Im März 2010 ging es zum ersten Mal ab in die Staatsoper, ein Jahr später riefen Chadde und Sedelies die ersten Landemeisterschaften im Poetry Slam für Niedersachsen und Bremen ins Leben. 2015 feierte Chadde dann sein 20-jähriges Bühnenjubiläum und im Oktober 2017 richtete er gemeinsam mit einer eigens dafür gegründeten Firma, dem Büro für Popkultur, die deutschsprachigen Poetry Slam-Meisterschaften in Hannover aus. Rund 10.000 Besucher*innen erlebten dieses fünftägige Poesie-Spektakel. Bereits im Vorfeld zu den Meisterschaften erhielt das sechsköpfige Team für sein kulturelles Engagement sogar von der Bundesregierung die Auszeichnung als Kultur- und Kreativpiloten. Henning Chadde hat schon unglaublich viel erreicht. Vor allem kann er von seiner Selbstständigkeit im Kultursektor leben und dafür ist er auch wirklich dankbar. „Das wäre aber natürlich nicht ohne die ganzen Poet*innen, viele engagierte Wegbegleiter*innen und das Macht Worte!-Team möglich gewesen“, gibt er bescheiden zu.
„Kultur hat den oppositionellen Auftrag, das bestehende System zu hinterfragen, zu einem Besseren zu verändern.“
„Klar, den Mercedes hab ich jetzt nicht vor der Tür stehen, aber das war auch nie mein Ziel“, sagt er. Dafür hat er allerdings Frau und Tochter, mit denen er jedes Abenteuer in Angriff nehmen kann. Zum Beispiel ausgedehnte Urlaube in Skandinavien, gerne im Zelt oder Camper. „Ich mache einfach leidenschaftlich gerne Literaturveranstaltungen“, sagt Henning Chadde. Und es sind auch immer noch ausreichend Wünsche und Träume im beruflichen Feld offen, auch wenn sie aufgrund der Corona-Pandemie momentan empfindlich pausieren müssen. Mehr Gala-Shows und weniger Wettbewerb auf der Bühne fände er super. Endlich mal wieder mehr Auftritte mit eigenen Texten und Programmen auch. Und irgendwann möchte er doch etwas weniger als Moderator auf der Bühne stehen und Platz für guten Nachwuchs machen. Vielleicht in Form einer Agentur. Anders als so manche Berufspessimist*innen blickt Chadde optimistisch auf die nachfolgenden Generationen. „Du hast eine ganze junge Generation am Wort“, sagt er und freut sich vor allem darüber, dass heute wahrscheinlich so viel geschrieben wird, wie noch nie zuvor.
Trotzdem verschließt er die Augen nicht vor den aktuellen Krisen. Die Gefahren des Virus nimmt er ernst, aber dennoch stören ihn vor allem die unterschiedlichen Maßnahmen der Bundesländer in Bezug auf die Unterstützung von Solo-Selbstständigen und fehlende, klare Auftrittsregelungen. „Welche Solo-Selbstständigen haben schon ausschweifende Betriebskosten?“, fragt er. „Nur die aber durften bisher bei den Überbrückungshilfen beantragt werden“ (Hinweis d. Verfasserin: Inzwischen gab es im Zuge von Lockdown II. für Soloselbstständige immerhin für zwei Monate „bedingungslose“, finanzielle Unterstützung in Form der November- und Dezemberhilfe).
Für ihn wird die Notwendigkeit eines richtigen Dachverbands, einer gut organisierten und starken Lobby für die Kultur, immer wichtiger. „Gelder müssen gleichmäßiger verteilt werden, untereinander muss mehr Gemeinschaft herrschen“. Ob in diesen Zeiten der (beim Erscheinen dieses Artikels bereits vergangene und auch verlorene, Anm. d. Verfasserin) Wettbewerb Hannovers als Kulturhauptstadt für das Jahr 2025 Sinn macht? Für Henning Chadde die falsche Frage zum denkbar falschesten Zeitpunkt. „Die Frage war und ist vielmehr, welche Künstlerin, welcher Künstler bis dahin überlebt hat, welche Läden dann noch offen sind, um sich überhaupt an diesem Vorhaben zu beteiligen“. Auch in Bezug auf die vieldiskutierte Systemrelevanz der Kultur zeigt er sich gewohnt kritisch und weitsichtig, denn hier werden seiner Meinung nach zwei Dinge in einen Topf geworfen, die keine grundlegende Symbiose darstellen sollten: „Kultur hat den oppositionellen Auftrag, das bestehende System zu hinterfragen, zu einem Besseren zu verändern.“ Es geht also weniger um die Relevanz im Kontext des Systems, als vielmehr um den kritisch-beobachtenden Auftrag der Kultur als solches. Und somit der damit verbundenen Relevanz in verändernder Kreativität und Aktion. Das schließt allerdings eine tatkräftige und gewollte Unterstützung von Bund und Ländern keinesfalls aus. „Schon gar nicht in diesen Pandemie-Zeiten“, betont Chadde.
Auch Macht Worte! muss sich weiterentwickeln. „Wir sind ja auch unübersehbar alte weiße Männer. Wir müssen an Diversität arbeiten“, gibt er ehrlich zu und wünscht sich deutlich mehr weibliche Power in Führungspositionen und in Moderationsteams. „Da bin ich sehr dafür zu haben, dass wir mehr weibliche Stimmen dazubekommen“. Außerdem muss seiner Meinung nach der immer noch stark verbreitete Hang zur Selbstausbeutung in der Kultur aufhören. „Man muss sich da selber den Druck rausnehmen und nicht bei jeder vermeintlich gutgemeinten Anfrage zusagen“. Nachfolgenden kreativen Köpfen gibt er stets zwei Ratschläge mit auf den Weg: zum einen sollten sie wirklich maximal zehn Jahre alles für ihren Traum geben. Wenn man nach zehn Jahren aber immer noch nicht in der Grundexistenz von diesem großen Traum leben kann, dann sollte man sich in Erwerbssachen, so hart es auch ist, umorientieren. Und die Kunst künftig allein als engagiertes Hobby betreiben. „Und es muss ein roter Faden vorhanden sein“, sagt er und meint damit, dass man sich ganz klar auf einen bestimmten Bereich fokussieren sollte. Also nicht mal eben Bass spielen in einer B-Klasse-Band, nebenbei noch zur Clownsschule zwei Straßen weiter laufen, flüchtig hunderte von Texten, Lyriken und Songfragmenten beginnen und abends in der Kneipe den literarischen Durchbruch auf wackligen Bühnen bei unzähligen Poetry Slams suchen. „Klar,“ fügt Chadde an, „Konzentration klingt in jungen Jahren des kreativen Rumflippens erstmal so gar nicht verlockend. Pflegt aber durchaus zu helfen“.
Kurz bevor es auf die Bühne geht, zieht sich Henning Chadde noch einmal zum Durchatmen und für letzte Absprachen zurück. Dann wirft er sich das Jackett über und streift den Kragen glatt. Heute gibt es keinen vollbesetzten Saal und auch kein – wie ansonsten üblich – Hells Bells von AC/DC, wenn er die Bühne betritt. Die Show ist den Pandemie-Umständen stilistisch angeglichen worden. Aber auch wenn heute alles etwas anders ist, ist es dennoch etwas Besonderes. Denn das ist es nun mal jedes Mal, wenn Henning Chadde auf die Bühne geht. So viel ist klar.
Ihr habt jetzt richtig Lust auf Poetry Slam bekommen? Dann holt euch für die Post-Corona-Zeit schon mal einen Vorgeschmack auf der Website von Macht Worte! ab.
(Fotos: stadt.land.stories (1,3,4,5,6), Henning Chadde privat (2))
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