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Unterwegs mit Henning Chadde

Oder auch: Wir nehmen uns unsere Plätze selbst.

Den hellgrauen Anzug hat sich Henning Chadde 2017 extra für das große Finale der deutschsprachigen Poetry Slam-Meisterschaften in Hannover gekauft. Während er im Kulturzentrum Faust auch gerne mal in Jeans und kurzärmeligem Hemd auf der Bühne steht, wird es für die Staatsoper Hannover durchaus eleganter. „Dafür nehme ich dann auch das Taxi“, sagt er und grinst. Wir schreiben den 2. September 2020 und dieser Abend sollte eigentlich etwas ganz Besonderes sein. Seit über zehn Jahren steht Henning Chadde mit seinem Poetry Slam-Format Macht Worte! in der Staatsoper auf der Bühne. Alle drei Monate kommen hier die besten Poet*innen aus dem deutschsprachigen Raum zusammen. Beinahe jedes Mal vor ausverkauftem Haus. Zum zehnjährigen Jubiläum im Juni letzten Jahres wollten sie es alle richtig krachen lassen, aber dann kam Corona und machte der eigentlich für diesen Tag geplanten Sause einen Strich durch die Rechnung.

Jetzt aber, drei Monate später, darf das Jubiläum nachgeholt werden. Nur eben anders, als man es ursprünglich geplant hatte. Statt der gewohnten 1200, dürfen heute nur 310 Zuschauer*innen Platz im Opernrund nehmen. Statt herzlicher Umarmungen im Backstage-Bereich, sitzen alle Poet*innen vorbildlich mit Maske und Abstand voneinander entfernt. Es wird keine Pause geben und auch das Line-up wurde verschlankt. Obendrein wird heute auf die gängige Publikumsbewertung verzichtet, denn wenn man in diesen Zeiten schon auf die Bühne darf, dann ist das doch für alle ein Gewinn. Eine Poetry Slam-Gala in Zeiten der Pandemie also. Henning Chadde ist schon einfach froh, dass er wieder auf die Bühne darf.

Für die Staatsoper Hannover schmeißt sich Henning Chadde gerne in Schale

Dass er irgendwann mal sein Geld mit der Organisation und Moderation von Literaturveranstaltungen verdienen würde, hätte der 1969 geborene Hannoveraner früher nicht gedacht. Trotzdem ist er mittlerweile in Hannover und darüber hinaus bekannt wie ein bunter Hund. Als Namensgeber und Gründer von Macht Worte! hat er den Poetry Slam in der niedersächsischen Landeshauptstadt etabliert. Seine Lesebühnen halten stabil ihr Stammpublikum und mit seinem schelmischen Grinsen und seiner geselligen Art kommt er an, sowohl auf der Bühne, als auch abseits des Rampenlichts. Seine Sprüche dürfen bei keiner seiner Veranstaltungen fehlen und haben in der Szene bereits Kultstatus erreicht. Bei Henning Chadde geht es nun mal gerne „bis nach Meppen“ oder in den „Speckgürtel Hannovers“. Abseits der Bühne ist er aber nicht nur Literaturveranstalter, sondern fördert gerne aktiv den literarischen Nachwuchs, teilt sein Wissen und steht für eine lebendige und freie Literaturszene ein.

„Wir haben wirklich gedacht, dass es morgen knallt“

Die Weichen für seine Liebe zur Literatur wurden bereits verhältnismäßig früh gestellt. Mit zwölf Jahren las er Remarques Im Westen nichts Neues, auch wenn er noch nicht alles versteht. Mit 13 mopste er sich die Churchill-Tagebücher von seinem Vater. Mit 14 folgte dann im Philosophie-Unterricht des Georg-Büchner-Gymnasiums in Seelze-Letter Albert Camus‘ Die Pest. Und irgendwie machte es dann bei Chadde klick und er begann selbst zu schreiben. Ob das an Camus lag oder an The Cure, die er durch seine älteren Freunde kennenlernte, ist nicht mehr wirklich zu rekonstruieren. Klar ist nur, dass ihn die Nähe zur Philosophie aber auch der Kontakt zu den älteren Jugendlichen die adoleszente Poesie überspringen lies. Was er schrieb, das war gleich ein wenig anders, ernster. Das merkte vor allem sein damaliger Deutschlehrer Horst Thum. Fortan nutzte Chadde jede Möglichkeit, um sich schriftlich auszudrücken. Egal ob schuleigene Zeitung oder Schreibwettbewerb, er war dabei. Zu sagen hat er viel, schließlich sind es die 1980er Jahre und das bedeutet Endzeitstimmung. Atomare Bedrohung, Kalter Krieg, die Kohl-Jahre, dazu die immer noch unverdaute erste Hälfte des Jahrhunderts. „Wir haben wirklich gedacht, dass es morgen knallt“, erzählt er mir. Der 1980er-Chadde ist links, skeptisch und vieles geht für ihn zu langsam, zu behäbig, im Stillstand gefangen.

„Viel Vertrauen in die Erwachsenen hatte man einfach nicht“, erzählt mir Henning Chadde. „Da gab es eigentlich keine nennenswerten Vorbilder auf großer Ebene“. Auf seine eigene Jugend und Schulzeit blickt er folglich kritisch zurück. Während nicht wenige Lehrer*innen den Jugendlichen nämlich in den 1980ern noch ernsthaft versuchten zu erklären, dass die Wiedervereinigung ihre Generationsaufgabe sei, richtete Chadde seinen Blick weiter in den Westen. Man wollte nach London, Paris, oder irgendwann mal nach Amerika und was erleben. Ein Abenteurer war er schließlich schon als Kind gewesen. Und wieso wollte man etwas einen? Schließlich empfand er schon die Gesellschaft, in die er hineingeboren wurde, als zerrissen. Da gab es die Hippie- und Öko-Fraktion, die bei den Oster- und Antiatomkraftmärschen demonstrierte, Popper mit Seitenscheiteln, frühe C-64- und Atari-Nerds, die mit Jackett und Koffer zur Schule kamen, Punks, Skinheads und eine Erwachsenengeneration, die im politischen Mittelstandsschlaf die drängenden Zeichen der Zeit verpennte. Und auch wenn er The Cure und The Sisters of Mercy hörte, war er kein Grufti. Ein Punk übrigens ebenso wenig. Nur hier und da fand er Menschen, denen es ähnlich ging. Und der ein oder andere hatte eine ebenso große Leidenschaft zur Literatur wie er. Wie auch der hannoversche Autor und Musiker Kersten Flenter. Den lernte Chadde flüchtig bereits in der Oberstufe kennen. Flenter war in der 13. Klasse, also kurz vor Abschluss und Chadde in der 11. Später sollten sich ihre Wege erneut kreuzen. Ein Glück für beide.

„Irgendwie fallen wir schon wieder auf die Füße“

Nach dem Abi ging es für Chadde erst zum Zivildienst in die Mobil-Soziale Betreuung und Pflege, dann an die Uni Hannover, wo er sich für Germanistik, Geschichte und Politik einschrieb. „Vom Grad der Eingeschlafenheit dem Zivi gar nicht so unähnlich“, fügt Chadde lachend an. Denn anstatt sich nun eben genau der abseitigen Literatur zu widmen, für die er sich interessierte, wurde die Zeit mit den alten großen Meistern verbracht. Interdisziplinäre Ansätze waren im akademischen Umfeld der beginnenden 1990er noch nicht wirklich angekommen. Dafür traf Chadde wieder auf Flenter, der nicht nur ebenfalls weiterhin am Schreiben war, sondern zudem auch noch eigene Lesungen organisierte. Beeinflusst von den Beatniks fanden diese aber nicht in den klassischen Literaturtempeln statt, sondern in Kneipen und anderen Lokalitäten abseits des gängigen Literaturbetriebs. Und auch Chadde sollte in diesem Rahmen lesen.

Ziehen sich wie ein roter Faden durch Henning Chaddes Leben: Große Auftritte, große Worte und Lichterketten

Was zunächst nach dem Beginn einer großen Schriftstellerkarriere klingt, ist vielmehr die Grundsteinlegung der freien hannoverschen Literaturszene, wie wir sie heute kennen und schätzen. Heute, wo in Nicht-Pandemie-Zeiten der Literarische Salon Wohnzimmerlesungen veranstaltet, Poetry Slams in nahezu jeder möglichen Spielstätte beheimatet sind und es mehr um den Erhalt einer unkonventionellen Note geht, glaubt man fast, dass es schon immer so gewesen sein müsste. Dabei hatte Kersten Flenter damals angefangen in den Räumlichkeiten des Kulturzentrums Faust ein unabhängiges Literaturfestival zu veranstalten. Ab 1995 ging ihm dabei Henning Chadde zur Hand und diametral zur bereits hochkulturell etablierten BuchLust wurde die BuchFrust im Spiegel des Social Beat-Netzwerks geboren. Ein jährliches Poerty & Music-Literaturfestival samt Buchmesse, das zu Beginn noch eine ganze Woche andauerte und vor allem zahlreiche Lesungen, Konzerte und Happenings beinhaltete. Chadde und Flenter gaben nicht nur Gas, sondern gaben Autor*innen einen Platz zum Lesen, die sonst in keine Schublade und keinen großen Verlag zu passen schienen. Von 1994 bis 2000 brachte es die BuchFrust schließlich auf sieben vielbeachtete Ausgaben und Chadde und Flenter riefen zudem zu monatlichen Poetry and Beat-Lesungen mit Autor*innen und Lese-Kollektiven aus dem gesamten deutschsprachigen Raum. Ganz zu schweigen von ihren eigenen, bundesweiten Auftritten und unzähligen Veröffentlichungen ihrer Text Land auf, Land ab.

Während das Studium also etwas still und leise nebenher plätscherte und seine Kommiliton*innen über Goethe, Schiller und Co. brüteten, sammelte Henning Chadde bereits fruchtbare Erfahrungen als Literatur- und Festivalveranstalter. So ganz nachvollziehen konnten seine Eltern diese Leidenschaft zwar nicht, aber sie vertrauten auf seine Fähigkeiten. Selbst als ihm immer mehr die Puste für das Studium ausging, sah er bei allen Zweifeln vor diesem Hintergrund die Situation halbwegs gelassen: „Irgendwie fallen wir schon wieder auf die Füße“. Diese Denkweise umschreibt er immer noch gerne als Erbe seiner Mittelstandskindheit. Aber ohne knallharten Einsatz wäre er sicherlich nicht ganz so weich gefallen. Sein Antrieb waren fortan klare Visionen für die freie Literaturszene, die nichts mit akademischen Schranken, verstaubten Wasserglaslesungen und zugangsbeschränkten Elfenbeintürmen zu tun hatten.

Seiten: 1 2

Veröffentlicht in Stories

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